Avas und Bashs Wohnung in London, kurz vor Heiligabend 1980

Es war schon ziemlich lange her, seit die Sache mit Cians Zauber so eskaliert war, doch sie spukte noch immer in Avas Gedanken herum. Das, was sie gesehen hatte, und das, was sie danach erfahren hatte. Es ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. War das so eine Sache, für die es eine Lösung geben sollte? Oder machte sie nun einfach weiter wie bisher?

Wann immer sie sich eine kurze Pause gönnte, um die Bücher, die sie in der kleinen Bibliothek verteilte, auch wieder zusammen zu räumen, wanderten ihre Gedanken von der Heilkunst oder möglichen Angriffszaubern über zu diesen Fragen. Wenn sie die Schule mit ihren Bestnoten so überstehen wollte, wie bisher, sollte sie die Sache bald klären. Sehr bald. Nur wie?

Mit einem Seufzen schob sie das Buch über die Anatomie des Menschen wieder an den dafür vorgesehenen Platz. Wo die anderen waren, wusste sie nicht so recht. Vielleicht in der Stadt unterwegs - diese Sachen, für die sie selbst absolut keinen Nerv hatte. Danach. Wenn es ein Danach gab.

Er war gerade zurück von einer Jagd, die keine war. Die nichts war als eine Farce. Wie auch, wenn die Schwarzmagier, vorher gewarnt, alle Zeit der Welt hatten, um Spuren und Beweise verschwinden zu lassen. Und er war sich sicher: Mindestens fünf, wenn nicht mehr Autoren steckten mit drin. Wenn nicht sogar der Leiter der Magischen Strafverfolgung selbst.

Erste Schneeflocken fielen lautlos, der Wind verwehte sie noch, aber bald... bald würden sie London in eine unschuldig weiße Decke hüllen.

Sam schlug den Mantelkragen hoch. Er fröstelte. Sein Schritt war entschlossen und er bog in die kleine Strasse ein, in welcher die WG lag. Ein hübsches Mehrfamilienhaus. An den Klingelknöpfen standen keine Namen.
Sam zog den Zauberstab.
"Revelio".

Die Buchstaben tanzten auf den Klingelschildern und fügten sich wieder zusammen.
Und jetzt war zu lesen: "Ford/Marakov"

Er klingelte.

Sie hatte gerade die Bücher weggeräumt und die Reste ihres kargen Frühstücks entsorgt, als es klingelte. Stirnrunzelnd sah sie zur Tür. Hatte jemand etwas vergessen? Aber dann würden sie einfach herein kommen. Oder hatte sie vergessen, dass sie jemanden eingeladen hatte? Oder hatte sie nur einfach wieder viel länger an ihren Büchern gesessen, als geplant? Seit Beginn der Ferien fehlte ihr der geregelte Schulablauf irgendwie.

Ava strich sich die inzwischen nur noch Schulterlangen Haare zurück und ging, den Zauberstab in der Hand zur Tür. Die Nachbarn kamen nie vorbei, dafür standen die Wohnungen im Jahr zu lange leer.

Sie öffnete und betätigte den Knopf, der für die Haustür zuständig war und lauschte.

Er stieg die Treppen hinauf. Im Licht der geöffneten Tür stand sie und er klopfte sich instinktiv den Staub vom Umhang.
Ein müdes Lächeln zog über sein Gesicht.

"Hey. Lässt du mich rein?"

Ava blinzelte ungläubig. Sam? Hatten sie für heute irgendetwas abgesprochen? Oder spielten ihre Erinnerungen ihr einen Streich? Zumindest eine Sache sollte sie nicht vergessen: Sicher zu gehen, dass es wirklich er war, den sie in ihr Haus ließ. Irgendetwas sträubte sich gegen dieses Misstrauen und das beruhigte sie ein wenig. Es war also nicht alles weg. Sie wollte Sam nicht misstrauen müssen, aber die Zeiten...

"Sicher doch. Wenn du mir sagen kannst, was wir letztes Jahr im Winter gemacht haben."

Er nickte ernst und das Lächeln war verschwunden.
"Eislaufen", war seine Antwort und er wartete ruhig auf ihre Reaktion.
Es war traurig, dass die allgegenwärtige Angst jede Freude überschattete. Dass Misstrauen so normal war wie Atmen.

Ruhig stand er vor ihr und wartete geduldig.

Wortlos trat sie zur Seite, um ihn einzulassen. Erst als die Tür hinter ihr sich schloss, schien sie sich ein wenig zu entspannen. Es bildete sich sogar ein kleines Lächeln auf ihren Lippen.

"Schön, dass du da bist, Sam."

Er gab der Tür mit dem Absatz einen leichten Stoß, sodass sie ins Schloss fiel. Dann zog er Ava an sich und lehnte seine Stirn an ihre.
"Ich habe dich vermisst", murmelte er und fing ihren Blick ein.

Ava lehnte sich an ihren Freund und erlaubte sich einen Moment, die Berührung zu genießen. Irgendetwas in ihr freute sich, ihn zu sehen, doch das, was passiert war, überdeckte irgendwie noch immer alles. Nicht, dass es schlimm gewesen war. Es hatte ihr nur die Augen geöffnet. Auf eine wenig angenehme Weise.
Ava nahm seine Hand und drückte sie leicht, ehe sie ihn sanft küsste. Das war einer dieser Momente, in denen sie nicht denken sollte.
“Ich dich auch.“
Anfang des Schuljahrs war sie fast krank vor Sorge gewesen. Zumindest war das der Schluss, zu dem sie mit Audreys und Bastians Hilfe gekommen war.
“Was führt dich her?“

"Du", antwortete er schlicht und streichelte ihr Gesicht, ehe er ihren Kuss sanft erwiederte, die Arme wieder um sie legte und sie nicht mehr losließ.
"Ich wollte einfach für ein paar Tage diesem Wahnsinn da draußen entkommen." Sein bitteres Lächeln verschwand ganz schnell wieder vom Gesicht.

“Dann fühl dich hier wie zu Hause. Und... rechne damit, dass ständig was los ist. Audrey und Alisa wohnen auch hier. Und wir müssen immer noch klären, ob Bash und ich im Sommer anbauen, weil wir hier dann dauerhaft bleiben oder ob unsere Wohnwege sich trennen... Also... wenn du über Nacht bleiben willst, wäre bei mir noch Platz.“
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und schloss die Augen. Blödsinn brabbeln konnte sie inzwischen auch ganz gut... aber vielleicht konnte sie ihn damit ablenken? Und sich selbst auch ein bisschen von den Gedanken... und dem Krieg.

"Auf deinem Bettvorleger?", lachte er, "oder war ich brav genug, in deinem Bett schlafen zu dürfen?"
Seine Hand strich zärtlich durch ihr Haar, seine andere lag um ihre Taille.

Er sah sich im Haus um. Es wirkte warm und gemütlich. Heimelig und einladend. Er war froh, hier zu sein.

“Ich hab keinen Bettvorleger. Da bleibt wohl nur das Bett.“
Einen Moment noch ließ sie ihren Kopf auf seiner Schulter liegen, während sie mit einer Hand dem Mantel aufknöpfte. Wenn er bleiben wollte, sollte er nicht mit den warmen Wintersachen im Haus rumlaufen müssen.
“Willst du was trinken? Ich wollte eh in die Küche und Kakao für später kochen.“

Sam ließ sie gewähren, ehe er den Mantel von den Schultern streifte und an den Garderobenhaken hängte.

"Kakao klingt gut", lächelte er und folgte ihr durch den Flur. Er sah sich neugierig um. In all der Zeit war er noch nie hier gewesen.
Warum eigentlich?

Wie praktisch, dass das Wohnzimmer fast direkt an die Küche angrenzte. Es war trotz der inzwischen vier Personen, die hier lebten, ordentlich, fast unbewohnt. Aber das lag auch daran, dass sie eigentlich das ganze Jahr über in Hogwarts waren. Sie bedeutete ihm, dass er sich auf eines der Sofas setzen sollte, während sie ihren Weg durch das Esszimmer fortsetzte. Die Tür zu zur Bibliothek war geschlossen.
Nur wenige Momente später kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem ein Teller Kekse und zwei Tassen warmer Kakao standen.
“Brauchst du sonst noch irgendwas?“

Er wartete, bis sie das Tablett abgestellt hatte, dann griff er nach ihrer Hand und zog sie zu sich, um sie zu umarmen.
"Nur dich!", murmelte Sam leise und küsste ihren Nacken, schob seine Nase in ihr schwarzes Haar.

Ava gab ein überraschtes Geräusch von sich, als sie wenig elegant in Sams Armen landete. War es seltsam, dass sie sich hier so geborgen fühlte? So stark, wie sie war und versuchte zu sein, sollte sie das eigentlich nicht müssen. Und doch...
Manchmal kam sie sich vor, als sei sie wie Wachs in seinen Händen. Von der “Eisprinzessin“ war dann nicht viel übrig. Wenn ihr Haus sie sehen könnte...
Mit einem leisen Seufzen lehnte sie sich an ihn. Zu viele Gedanken, wie immer. Sie musste sich zu oft daran erinnern, den Moment zu genießen, die Berührung, an die sie sich noch nicht gewöhnt hatte.
“Das hast du doch. Du hast mehr von mir, als jeder andere jemals haben wird.“

"Da hast du Recht." San strich ihr sanft über die Schulter.
Er dachte nach. Wenn er es jetzt nicht tat, hatte er vielleicht nie wieder die Gelegenheit dazu.
"Ava... Ich muss dir etwas sagen. Etwas Wichtiges...."
Verdammt, seit wann war er schüchtern?
"Wenn ich es jetzt nicht sage, haben wir vielleicht keine Zeit mehr dazu."

Mit einem leicht irritierten Blick sah Ava auf. Etwas wichtiges? Alles, was er für seinen Beruf tat, war wichtig. Auch wenn er nicht immer so wirkte. Und keine Zeit... kurz schwirrten ihre Gedanken zurück zu diesem einen denkwürdigen Abend, an dem Cian seinen neuen Zauber ausprobiert hatte und an dem sie mit Bash so lange gesprochen hatte, dass es plötzlich mitten in der Nacht geworden war... doch sie schob den Gedanken zur Seite, um sich ganz auf Sam zu konzentrieren.
“Was bedrückt dich?“

"Es ist nicht wirklich bedrückend... eher das Gegenteil. " er seufzte, dann griff er nach ihrer Hand und blickte sie ernst an.
"Weißt du... wir sind ja nun schon eine Weile zusammen. Und ... Ich finde es schön mit dir. Sehr schön sogar. Ich... mache mir nur Sorgen, dass ... in diesen Zeiten leicht jeder Tag unser letzter sein könnte."

Sein Gesicht wurde weich.
"Aha... Du weißt, was ich für dich empfinde. Könntest du dir vorstellen... mit mir zusammen zu bleiben?"

Er fuhr sich durchs Haar und räusperte sich.

Nicht wirklich bedrückend? Wollte er in Rätseln sprechen, oder weshalb ...?

Ava sah auf ihre Hand, die in seiner lag und lauschte seinen Worten. Es stimmte. Jeder verdammte Tag könnte ihr letzter sein. Und genau deshalb hatte sie aufgehört zu planen für das danach. Weshalb Energie hinein stecken, wenn es sich sowieso nicht abzeichnen ließ, wie es dann aussah? Wenn es überhaupt ein Danach geben würde.

Sie schwieg, als sie zu ihm aufsah. Einen ganzen langen Moment, der ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkam. Das war genau die Frage, die Bash ihr prophezeit hatte. Und wenigstens darauf hatte sie inzwischen irgendwie schon eine Antwort gefunden.

"Wenn es für mich danach noch einen Grund gibt, zu bleiben, dann bist du es, Sam."

Er schwieg einen Augenblick und atmete tief durch.
Dann griff er in eine seiner Manteltaschen und zog etwas heraus. Eine kleine Schachtel.
"Ava... wir wissen aktuell nicht, ob und wie lange wir diesen Krieg überleben werden. Speziell ich als Auror. Und ich... Ich liebe dich.. Ich möchte nicht bereuen müssen, diesen Schritt nicht gewagt zu haben."
Er atmete tief ein, dann erhob er sich, nur um sich dann auf ein Knie niederzulassen und blickte er ihr tief in die Augen.
"Ava Ford... willst du meine Frau werden?"

Schweigend beobachtete sie, wie er sich bedacht vor ihr nieder ließ. In ihrem Hinterkopf klingelte etwas - eine erwartete Reaktion und gleichzeitig die Erinnerung an ihren Vater. Eines von beidem verbot ihr, darauf zu antworten. Sie wäre ja noch nicht am Ziel angekommen. Und doch... wenn Lewis es verbieten sollte, dann erst recht!
Ava verzichtete auf eine verbale Antwort und legte ihrem Liebsten die Arme um den Oberkörper und küsste ihn lange. Erst dann sah sie ihn an und nickte.
“Wenn es für uns eine Zukunft gibt, dann will ich sie an deiner Seite verbringen.“

Seine Augen wurden groß und dann zog er sie in seine Arme und presste sie heftig an sich. Sie f0hlte sein Herz schlagen wie das eines sterbenden Vogels, den man mit der Flinte geschossen hatte. Und dann bebte sein Körper.
San lachte. Leise, glücklich, befreit.
"Ava...Meine Ava...", flüsterte er zärtlich, während er ihr den Ring an den Finger steckte.
"Ava Celine Lyall. Klingt sehr gut."

Sie schmiegte sich an seine Brust und lauschte auf seinen Herzschlag. Es war erstaunlich, wie jemans so sehr auf sie reagierte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
“Nur Ava“, antworte sie leise. “Ich will den Namen meiner Mutter nicht tragen.“
Lange betrachtete sie den Ring. Eine kleine Schneeflocke mit kleinen blauen Schmucksteinen.
“Er ist wunderschön.“