The Children's Crusade

Levi hielt in der Bewegung inne und sah auf den Jungen hinab, der ihn so plötzlich gestoppt hatte. Es war der gleiche, der ihm ganz am Anfang auf dem Flur begegnet war; es kam ihm vor, als wäre es eine Ewigkeit her.
Dann begriff er. Finnegan. Der Direktor. Das hatte er doch schon mal gehört.
"Okay," sagte er und nickte kurz. "Danke."
Jetzt bloß keinen Fehler mehr machen, damit die Hilfe gerade nicht umsonst gewesen war. Er sah zu Finnegan hinüber. "Tut mir Leid, sir," sagte er und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Stuhl.

Finnegan verfolgte die Szenerie mit Argusaugen. Er nickte zustimmend und mit kalten Augen, als er Bash's Worte hörte.

"Unerlaubtes Aufstehen bringt normalerweise eine Strafe mit sich,  Sullivan. Aber dank deines Eifers, einem Missetäter seine gerechte Strafe zukommen zu lassen,  wird dir diese Strafe erlassen. Marakov, du zeigst ihm den Weg zum Schlafsaal. Er bekommt das freie Bett am Fenster."

Finnegan erhob sich. "Die Tafel ist hiermit aufgehoben", wandte er sich an alle. "Wie jeden Abend werdet ihr ab einundzwanzig Uhr auf den Zimmern sein, um zweiundzwanzig Uhr werden die Lichter gelöscht."

Er ließ seinen Blick schweifen und richtete ihn schließlich auf Suzanna und Ava. "Fairchild, Ford, ihr habt in dieser Woche die wenigsten Tadel und Strafen erhalten. Ihr bekommt eine Sondererlaubnis, euch bis dreiundzwanzig Uhr in den Gängen aufzuhalten. Ihr werdet sie patrouillieren und mir oder Mr. Moore unverzüglich Bescheid geben, falls sich ein Kind dort unerlaubt aufhält oder anderweitig gegen die Hausordnung verstößt."

Wenigstens einer hier verwendete seinem Kopf auch zum Denken. Ab und zu zumindest. Nur nie, wenn es für ihn selbst am Besten gewesen wäre... aber das taten die wenigsten.

Als der Direktor die Stimme erhob, wandte sie sich ihm zu - so gehörte es sich und sie vermied es tunlichst, Fehler zu begehen, die andere sehen konnten.
"Danke, Sir."
Ob es wirklich ein Grund zur Dankbarkeit war - nun ja...

Bash nickte auf Finnegans Worte hin. "Natürlich, Sir." Er hatte sich vorgenommen Finnegan heute mit übertrieben gutem Benehmen zu strafen.
Nachdem Finnegan das Essen beendet hatte, stand er auf, warf Alisa seinen typischen "Komm mit"-Blick zu und ging den Tisch entlang zu Levi. "Komm mit Sullivan. Ich zeig dir erstmal den Schlafsaal und erklär dir ein paar grundlegende Dinge."

Levi hatte schnell erkannt, dass der Junge, den Finnegan Marakov oder so ähnlich genannt hatte, zwar etwas grimmig drein schaute, aber ansonsten ein netter Kerl zu sein schien, also zögerte er nicht, ihm nach dem Essen zu folgen. Besser, jemand sagte ihm zumindest ungefähr, worauf er so zu achten hatte, und wenn er Bashs leicht ungleichmäßige Art zu gehen mit seiner eigenen verglich, hatte er dahingehend wohl einen guten Lehrer gefunden.
Kaum aus dem Speisesaal heraus atmete Levi erleichtert auf.
"Danke nochmal. Wer weiß, was passiert wäre, wenn du mich nicht aufgehalten hättest."

Alisa hatte den Blick sofort verstanden und war ihrem Bruder gefolgt; penibel darauf achtend, dass Das Essen für Elijah niemandem auffallen würde. Noch war es früh genug und sie würde es ihm zukommen lassen können. Und wenn sie den Neuen richtig einschätzte, dann würde er mit Sicherheit dabei helfen wollen.

"Das möchtest du gar nicht wissen.", versicherte sie dem Jungen, als sie seine Worte hörte. "Die schlimmsten Strafen denkt sich Finnegan aus..." Sie versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, aber es wirkte wohl eher müde.

Zusammen mit Levi und Alisa verließ er den Speisesaal und ging die Treppen hinauf in den 2. Stock. Dort ging er den langen Gang entlang zu dem Schlafsaal wo unter anderem er und Elijah schliefen und in dem auch das freie Bett am Fenster war. An der Tür drehte er sich zu Alisa um. "Warte hier. Wir sind gleich wieder da." Mit Levi betrat er den für die Anzahl an Betten viel zu kleinen Raum und führte ihn zu dem freien Bett am Fenster. Beiläufig erklärte er "Es gibt viel zu beachten hier, aber das wirst du alles mit der Zeit lernen. Für den Moment erstmal soviel: Die Mädchen dürfen nicht in unsere Schlafsäle und wir nicht in ihre." Er drehte sich zu Levi um. Noch waren sie allein im Raum. "Und das wichtigste. Hier drin geht es nicht fair zu. Die Regeln sind strenger als sie überhaupt irgendein Mensch einhalten könnte und die Strafen sind hart, wie dir ja schon aufgefallen ist. Lass dich also besser nicht erwischen. Und wenn, dann lass dich von Moore erwischen. Seine Strafen sind zumindest noch erträglich. Finnegan ist unberechenbar, absolut kalt, skrupellos und sadistisch."

Levi folgte Bash in den Schlafraum. Auf der Treppe nach oben fand er seinen Koffer, den er bei seiner Konfrontation mit Moore dort hatte fallen lassen. Sein Rücken war von der zusätzlichen Belastung nicht eben begeistert, aber da musste er jetzt eben durch. Wenn Levi etwas in seiner kurzen Zeit im Waisenhaus gelernt hatte, dann war das, die Zähne zusammen zu beißen und sich nicht von Schmerzen unterkriegen zu lassen.
"Finnegan ist clever," gab Levi mit finsterem Blick zu, "Das eben beim Essen, das war doch Absicht! Ich würde nie irgendwen verpetzen, schon gar nicht Elijah!"
Er hielt inne, erinnerte sich an die leisen Worte, die der andere Junge ihm am Esstisch zugeflüstert hatte. "Können wir ihm irgendwie helfen?"

Bash nickte und ging zu seinem eigenen Bett hinüber, während Levi seinen Koffer abstellte und zog zwei kleine Gegenstände unter seinem Kopfkissen hervor, die er schnell in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Dann ging er wieder hinüber zur Tür und wartete dort auf Levi. "Vielleicht lässt sich da was machen."

Levi befand, dass zum Auspacken auch später noch Zeit sein würde und kam wieder mit nach draußen auf den Flur.
"Meinst du wirklich?" Levi kam nicht umhin, dem anderen ein strahlendes Lächeln zu schenken. "Du bist schwer in Ordnung... uhm... tut mir leid, ich kenn deinen Namen gar nicht," gab er etwas verlegen zu.

Warten war nicht unbedingt Alisas Stärke, doch sie vertrieb sich die Zeit damit, die Fliesen auf dem Boden zu zählen. Der Neue war also keine Petze, sagte er - sie glaubte es ihm. Wer würde schon Elijah verpetzen, wo er doch nett zu jedem war?

Als sich die Tür zum Schlafraum öffnete, sah sie auf und strahlte den beiden Jungen entgegen. Die Erinnerung an die Strafe vom Nachmittag hatte sie verdrängt. Jetzt galt es, Elijah zu helfen. Schließlich gab es gar keinen Grund, warum er in diesem fürchterlichen Loch eingesperrt worden war, oder?

Suzanna tat sich etwas vom Pudding auf. Zwar hatte sie eigentlich keinen Hunger mehr, aber es würde es ein falsches Zeichen setzen, wenn sie ihr Privileg nicht wahr nahm. Außerdem konnte man nie wissen, wann die nächste Mahlzeit wartete. Ein Überbleibsel aus ihrer Vergangenheit. Denn auch wenn sie hier selten ein Essen verpasste, war das Gefühl von Hunger etwas, das sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt hatte.

Sie sah fasziniert zu wie der Neue kurz davor war sich sein eigenes Grab zu schaufeln. Nett von Bash, dass er ihm aufhielt. Sie selbst hätte wohl eher zugesehen. Ein verletztes Tier konnte man leichter in seine Bahnen lenken. Ob beiden Jungs wohl klar war wie tief Sullivan damit in Marakovs Schuld stand?

Finnegans Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Die fragwürdige Belohnung versetzte sie nicht gerade in Euphorie. 2Stunden llänger draußen sein zu können war schön und gut. Allerdings wogen die Konsequenzen, die das ganze mit sich brachte den Spaß nicht auf. Finnegan würde Ergebnisse sehen wollen. Und alles was die anderen in der Zeit anstellten, würde auf sie zurück fallen.
Sie nickte dem Direktor zu, als Zeichen dafür, dass sie verstanden hatte. Dann räumte sie ihren Platz.

Nach dem Essen beobachtete Moore die beiden Mädchen, die das Abdecken der Tische besorgten, während die beiden Marakov-Geschwister den Neuen ins Schlepptau nahmen. Moore beobachtete mit Argusaugen, wie sie durch die Tür verschwanden. Das große, schwarzhaarige Mädchen verließ mit einem sauberen Knicks zu Direktor Finnegan ihren Platz und die zierliche Blonde stopfte sich den Mund noch voller Pudding, ehe sie auch aufstand. Kluge Strategie, wann gab's denn hier schon mal wieder was Anständiges.... Jetzt begann die Vorweihnachtszeit, da gab es mehr Spenden und demzufolge besseres Essen für die Kinder....
Moore erinnerte sich, dass er dem Hausmädchen noch auftragen wollte, die Wintersachen herauszuholen und auszubessern für die Kinder. Es war kalt geworden und wurde jeden tag kälter.
Bald würde es schneien.

Er schmunzelte, als er zu Alisa auf den Flur trat, sah Levi wieder an und hielt ihm die Hand hin. "Bastian Marakov. Aber du kannst mich Bash nennen. Nur besser nicht, wenn die Lehrer in der Nähe sind." Er deutete auf Alisa. "Und das ist meine Schwester Alisa."
Er sah auf seine Uhr. "Lass uns erstmal nach draußen verschwinden. Ist zwar etwas kalt, aber da kann man wenigstens atmen. Wir dürfen noch ne Stunde raus." Dann schlug er den Weg zur Treppe ein.

Levi schüttelte Bashs Hand. "Ich bin Levi. Levi Sullivan."
Es war gut zu wissen, dass er nun schon ein paar mehr Leute hier kannte. Wenn sie jetzt noch Elijah helfen konnten, würde sein erster Tag vielleicht nicht als absolutes Fiasko enden. Er folgte den beiden Geschwistern nach unten in Richtung Hof.
"Haben die Lehrer was gegen Spitznamen...?" hakte er vorsichtig nach. Das schien ihm doch reichlich seltsam.

Entweder, diese Nacht würde gut laufen und keiner würde sich auf die Gänge wagen - oder sie würde furchtbar werden. Hier gab es zwei Möglichkeiten. Entweder sie würden Leute einsammeln oder diese würden entwischen. Beides nicht erstrebenswert - dementsprechend war sie im Grunde gar nicht begeistert von Finnegans Belohnung. Aber auch da konnte man irgendwie durch. Die anderen konnten ihr egal sein, selbst wenn sie der Meinung waren, sie für ihre Korrektheit zu bestrafen, weil sie ihnen Schwierigkeiten bereitete.
Sie strich den Rock glatt, als sie über den Flur schritt. Sich mit Suzanna abzusprechen kam kaum in Frage. Die Zusammenarbeit war einzig eine Möglichkeit gewesen, Ärger mit der biestigen Blondine aus dem Weg zu gehen. Was sonst? Das bedeutete schließlich nicht, dass sie auch jetzt mit ihr zusammen arbeiten wollte. Zumal sie selbst eigentlich lieber noch einmal die Bücher durchgegangen wäre, als über die Gänge zu laufen und Spitzel für Finnegan zu spielen.

"Hallo Levi!", begrüßte Alisa den Jungen und auch sie hielt ihm die Hand zum Gruß hin. Dann folgte sie ihrem Bruder die Treppen hinab. Als sie auf den Hof traten, schlang sie die Arme um den Oberkörper - es war in den letzten Tagen merklich kälter geworden, doch die Winterklamotten hatten sie noch nicht ausgehändigt bekommen. Früher oder später würde sich noch jemand erkälten...

"Die Lehrer haben gegen Vieles was.", antwortete sie mit leiser Stimme auf Levis Frage, sah sich einmal unauffällig um und lotste das kleine Grüppchen dann in Richtung des Karzerfensters.

Beim Abräumen ging Suzanna noch mal ihr Gedicht durch und fluchte leise, als sie an einer Zeile hängen blieb. Dann musste sie also doch nochmal in das Buch schauen.

Auf dem Weg nach oben kam sie an dem Neuen, Bastian und Alisa vorbei, die offensichtlich auf dem Weg nach draußen waren.
Spannend, dass gerade diese drei sich zusammengetan hatten. Nach Sullivans Einstand und dem Abendessen vermutete sie, dass die Jungen sich zusammen in noch mehr Schwierigkeiten bringen würden, als alleine. Was Bastian wohl in ihm sah? Aus der reinen Güte seines Herzens nahm er ihn sicher nicht unter seinen Schutz. Schon gar nicht, wo er noch seine Schwester hatte, auf die er aufzupassen versuchte.

Im Mädchenschlafsaal angekommen zog sie ihren Mantel an und schob das Buch darunter. Dann machte sie sich ebenfalls auf den Weg in den Hof.

"Hallo Alisa," begrüße Levi auch Bashs Schwester bevor sie nach draußen gingen.
Unterwegs begegnete ihnen ein weiteres Mädchen, das aber kein Wort mit ihnen wechselte und ihn stattdessen nur eiskalt musterte.
Alisa schien auf eines der Kellerfenster zuzusteuern und Levis Gesicht hellte sich auf. Hatte Bash das gemeint, als er angedeutet hatte, dass sie Elijah helfen konnten?

Elijah hatte die Arme um seine angewinkelten Beine geschlungen.
Es war unangenehm kalt und feucht hier unten. Besonders jetzt wo es auf den Winter zu ging. Leicht zitternd zog er seine Arme enger um sich. Immer noch liefen Tränen über seine Wangen, auch wenn er versuchte das Schluchzen zu unterdrücken, als er Stimmen von oben vernahm. Anscheinend war das Essen beendet. Ob ihn bald jemand hier heraus holen würde?
Und was hatte Direktor Finnegan damit gemeint, dass er sich später mit ihm beschäftigen würde? War der Karzer nicht schon die Strafe gewesen? Wieder entwich ihm ein Schluchzen.
Er hatte nichts anstellen wollen und jetzt war sicherlich auch noch seine Hose vom Karzerboden schmutzig und nass.
Als er Schritte vernehmen konnte, hob Elijah leicht seinen Kopf von den Knien. Sie kamen nicht von der Tür aus, sondern von dem kleinen vergitterten Schacht.

Als sie an der Fensterluke angekommen waren, deutete er darauf und murmelte leise zu Levi. "Da unten sitzt er." Er ging zu Alisa, ließ sich von ihr die Serviette mit dem Essen geben und ging wieder zu Levi. Er reichte ihm die Serviette "Da ist was vom Abendessen drin," und griff dann in seine Hosentasche um einen Kerzenstummel und eine Schachtel Streichhölzer herauszuziehen, die er ebenfalls Levi reichte. "Und da es da unten verdammt dunkel ist, hab ich da noch was." Er sah sich schnell um. "Und jetzt beeil dich und vergiss nicht den Kleinen daran zu erinnern, dass er die Sachen verschwinden lassen soll, sobald sich jemand der Tür nähert." Nach diesen leisen Worten wandte er sich zu Alisa um, legte den Arm um ihre Schulter und ging, so gelassen und langsam wie möglich, ohne aufzufallen, mit ihr zur Hausecke zurück.

Etwas verwirrt guckte Levi für einen Moment schon aus der Wäsche, dann riss er sich aber zusammen. "Danke!" rief er Bash und Alisa noch nach und hockte sich neben das schmale Fenster. Die Gitter waren gerade weit genug voneinander entfernt, dass er seine Hand würd ehindurch schieben können. Nun denn.
"Elijah," flüsterte er und dann, weil er befürchtete, Elijah könnte ihn überhört haben, noch einmal etwas lauter, "Heh, Elijah!"

Mit einem bekräftigenden Lächeln nickte sie Levi zu, nachdem Bash ihm erklärt hatte, was er tun sollte. Sie warf noch einen letzten Blick zu dem vergitterten Schacht - Alisa hatte sich schon oft hierher geschlichen, wenn Bash mal wieder dort unten eingesperrt worden war.

An der Häuserecke angekommen, seufzte sie leise und strich sich die Schürze glatt. "So viel Ärger hast nichtmal du dir an unserem ersten Tag eingebracht.", murmelte sie und schmunzelte in Richtung ihres Bruders.