The Children's Crusade

"Und du glaubst, dass dein Fuß dann wieder in Ordnung kommt? Unsinn..."
Chandra hob noch einmal den Blick. Es war nicht zu übersehen, dass dieses Mädchen eine leichte Panik verspürte - oder wenigstens diese Situation hier verabscheute. Wieder lächelte die Krankenschwester.
"Du kannst natürlich auch sehr, sehr lange mit diesem verrenkten Fuß leben und weiterhin nicht laufen können. Such es dir aus."

"Ich lass es drauf ankommen." Hauptsache weg. Raus hier. Sie brauchte dringend frische Luft. War es die ganze Zeit schon so stickig gewesen? Und warum war ihr Kragen plötzlich so eng?
Sie machte Anstalten aufzustehen, immerhin hatte die Frau sie vor die Wahl gestellt. Und sie hatte sich entschieden.

Chandras Nägel bohrten sich noch ein wenig tiefer in Suzannas Bein. So egal ihr das Schicksal dieser Kinder war - es könnte Sanktionen geben, wenn sie ihre Arbeit nicht zufriedenstellend verrichtete. Wenn dieses dumme Ding sein halbes Leben lang hinken wollte, konnte ihr das egal sein. Eigentlich.
"Ich glaube nicht, dass der Direktor dich hierher geschickt hat, damit du gleich wieder gehst..."
Dennoch ließ sie das Mädchen los, aber nur, um eine Spritze vom Werkzeugtischchen zu nehmen. Sie hasste es, das wertvolle Zeug verschwenden zu müssen, aber bei einer sich anbahnenden Panikattacke... auf ein hysterisches Baby hatte sie gerade wirklich keine Lust.

Mit einem Ruck drückte sich Suzanna vom Stuhl hoch, der dabei polternd nach hinten kippte. Sie zerrte an ihrem Kragen, um besser Luft zu bekommen, mit nur mäßigem Erfolg. Ihren Lungen schrien nach Suerstoff, aber sie konnte nicht atmen. Alles um sie herum drehte sich und sie wusste, dass sie sterben würde. Jetzt, hier in diesem Raum, in diesem Gefängnis. Sie würde sterben und niemanden würde es kümmern.

Es klopfte.
Moore stand vor der Tür und hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Als Ford ohne Anhang und so schnell im Speisesaal erschienen war, war er einer Eingebung gefolgt und hatte Wilkens die Aufsicht übertragen. Die verhärmte Frau hatte genickt und hatte angefangen, eine ihrer berüchtigten Reden über Tischnanieren vom Stapel zu lassen.

Moore indes hatte es sich in den Kopf gesetzt, den blonden Trotzkopf im Unterricht zu sehen. Dass sie wegen Unachtsamkeit fehlte, sah er einfach nicht ein.

Er klopfte nochmal.

Chandras Blick huschte zur Tür und dann zu Suzanna, die zwar irgendwie stand, aber sich nicht weiter bewegte. Vermutlich, weil sie nicht konnte. Mit ihrer freien Hand griff sie nach einem der Fläschchen, die sie sorgsam drapiert hatte, nur um auf dem Weg zur Tür besagte Spritze aufzuziehen. Das Mädchen schien biestig genug zu sein, um nicht an einer Panik-Attacke zu krepieren.
"Ja, bitte?", antwortete sie ein wenig genervt, als es ein zweites Mal klopfte. "Ich habe hier jemanden zu versorgen."

Suzannas Blick glitt zur Tür und sie wusste, dass es niemand war den sie sehen wollte. Jemand der sie hier drin halten wollte. Jemand, der ihr gefährlich werden könnte. Sie taumelte ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. An der kalten weißen Wand, mit nichts als kalten weißen Wänden um sie herum.
Mit einem mal war sie wieder 10 Jahre alt und stand zitternd in genau so einem Raum. Kahle, einst weiße Wände. Ein Regal mit Döschen und Tiegelchen. Eine Liege, daneben ein Stuhl. Eine missmutige Dame in fleckigem Kittel, die sie herablassend von oben bis unten musterte, die Abscheu ins Gesicht geschrieben, weil sie nur ein dreckiges Straßenkind war. Und jemand, der kam sie zu holen. Der sie mit falschen Versprechungen locken wollte. Versprechungen von einem neuen Zuhause, das sie doch schon längst gefunden hatte. Jemand, der sie wegsperren wollte, damit edle Leute sich einreden konnten, dass es sowas wie sie überhaupt nicht gab. Aber sie würde einfach weglaufen, niemand würde sie zwingen können mit zu gehen.

Moore betrat die Krankenstube und erfasste die Situation mit einem Blick. Nach versorgen sah das hier nicht aus. Eher nach Einfangen eines wilden Tieres.
"Suzanna!", seine Stimme kam scharf, leise, aber sehr gut vernehmbar.
So wie er sie immer rief. Wenn sie zu spät kam. Wenn sie im Baum im Hof saß und er sie dort erwischte.
Wenn er sie im Unterricht tadelte.
Sie verbarg es gut, aber dieser Ton erreichte sie. Für gewöhnlich.

Sie sah in der Tat aus wie ein wildes Tier. Barfuß, mit verrutschtem Kleid und leicht zerzausten Haaren stand sie an die Wand gepresst, das Gewicht dabei deutlich auf dem linken Bein. Schwer atmend, das Gesicht kalkweiß und die Augen panisch auf die zwei Gestalten an der Tür gerichtet.
Als ihr Name genannt wurde, zuckte sie kaum merklich zusammen, blieb aber stumm.

"Disziplin, Suzanna!", Moore trat auf sie zu und überrgte die junge Frau um gut zwei Köpfe. Ein Zustand, den sie kannte. Der ihr vertraut war.
"Die erste Zeile des Gedichts für die heutige Stunde.... Suzanna."
Moore klang genau wie im Unterricht. Ruhig, herrisch, arrogant und kühl. Er tadelte viel und lobte selten.

Genervt verdrehte Chandra die Augen, allerdings so, dass Moore nichts davon mitbekam. Selbst wenn er es jetzt schaffen sollte, das Mädchen ruhig zu stellen... sobald sie Hand an den verletzten Fuß legte, würde sie wieder hysterisch werden. Also verschränkte die Krankenschwester die Arme vor der Brust, die Spritze in der Hand.
Vor allem - was mischte Moore sich hier ein? Ihm konnte es doch egal sein, was mit den Kindern passierte, solange sie nicht starben. Und dafür war sie ja hier. Eigentlich. Aber sie würde sich hüten, einen Ton dazu zu sagen. Finnegan war sehr eigen bei der Auswahl seiner Angestellten.

Bedrohlich ragte Moore vor ihr auf. Er war nicht hier um ihr zu helfen, er nutzte ihre Situation aus und wollte sie ebenfalls erniedrigen. Erst Finnegan, dann die Schwester und jetzt wollte Moore sie klein kriegen. Sie alle wollten das, wollten ihren Willen brechen. Sie wollten sie daran hindern jemals hier raus zu kommen. Das würde sie nicht zulassen.
Blitzschnell schoss sie hoch und rammte ihre Schulter in seine Seite. Die Wucht ließ sie selbst aufstöhnen, aber sie trat dennoch die Flucht nach vorn an.

Bash hatte sich an seinem üblichen Platz eingereiht und war mit den anderen in den Speisesaal gegangen. Dort hatte er seinen üblichen Platz an der Seite seiner Schwester eingenommen. Er lächelte sie an und strich ihr sanft übers Haar. "Na gut geschlafen, коpшка?" fragte er leise. Er zwang sich den wässrigen Brei und das pappige Brötchen runterzuwürgen. Immer noch besser, als gar kein Essen.

Moore steckte den Stoß weg und packte sie bei den Schultern.
"Jetzt ist es genug, Suzanna! Dein Fuß ist verletzt und du wirst dich jetzt zusammenreißen und stilhalten, damit das behandelt werden kann!"
Er sprach eindringlich und autoritär, hielt sie fest, damit sie nicht weglaufen konnte.

Sie hatte die Situation zwischen Moore und dem Mädchen beobachtet und vorsorglich die Tür zum Flur geschlossen, damit Suzanna gar nicht bis zum Flur kam. Und selbst wenn sie es versucht hätte, hätte die Spritze sie aufgehalten. Nun aber hielt Moore die kleine Bestie dankenswerterweise fest, sodass sie auf sie zutrat und den Stich weitaus präziser setzen konnte, als in jedem anderen Fall. Es war zwar nur das Bein, aber der Arm war schließlich noch von Kleidung bedeckt.

Alle klaren Gedanken waren schon länger einem dumpfen Gefühlswirrwar aus Angst, Gefahr und Schmerz gewichen. Alle Logik, alle Vernunft und jegliche Konsequenzen waren vergessen. Sie wollte nur noch weg. Raus aus der Situation, raus aus diesem Raum, raus raus raus. Sie merkte kaum was sie tat, versuchte nur sich zu befreien, mit allen Mitteln. Sie spürte Stoff unter ihren Fingern, dann Haut, vielleicht Haare. Es spielte keine Rolle, nur raus, weg, das war alles was zählte, der einzige Gedanke, der existierte und nicht mal der war sonderlich klar, denn alles verschwamm mit dem Schmerz und der Wut und dem Adrenalin.

Dann merkte sie wie alles ruhiger wurde. Wie die Angst abnahm. Wie der Schmerz verblasste. Und wie sie wieder Atmen konnte. Mit einem mal spürte sie eine Leichtigkeit gepaart mit dem Wunsch sich endlich setzen und auszuruhen zu können. Wie durch einen Schleier nahm sie die beiden Personen um sich wieder wahr. Moore der eindringlich zu ihr sprach, Chandra, die sie abfällig beobachtete. Suzanna versuchte Halt zu finden, denn mit einem mal verließ sie die Kraft mit der sie sich auf den Beinen gehalten hatte und drohte zu fallen.

Es hätte so einfach sein können. Aber im Grunde wollte sie das wertvolle Beruhigungsmittel nicht verschwenden. Bei dem Anfall, denn Suzanna gehabt hatte, war es allerdings nicht vermeidbar gewesen.
Chandra griff nach dem Mädchen, um es auf den Stuhl zurück zu bugsieren, auch wenn es nicht einfach war.

Sie verzichtete darauf, Moore einen tadelnden Blick zu zu werfen. Mit seinem autoritären Auftreten hatte er zwar im Normalfall Erfolg, aber dieses Mal - nun, das Mädchen hatte ihm deutlich gezeigt, was es davon hielt. Und im Grunde sollte jemand, der keine Ahnung hatte, sich auch nicht in ein Patientengespräch einmischen. Aber all dies würde sie nicht aussprechen. Wie käme sie auch dazu? Männer waren unglaublich leicht in ihrem Stolz zu verletzen. Und das konnte sie momentan nicht gebrauchen.

"Tun Sie, was Sie tun müssen", knurrte Moore, als er sicher war, dass Suzanna nicht fiel.
"Ich erwarte das Mädchen zum Unterricht, insofern Krücken vorhanden sind. Ansonsten beschaffen Sie welche. Sie wird nicht die ganze Woche Schulstoff versäumen!"
Er warf Suzanna einen letzten prüfenden Blick zu.
"Wir sprechen uns noch!"
Dann verließ er kommentarlos das Zimmer.

Draußen sog er scharf die Luft ein. Ein stechender Schmerz strahlte von der Seite in die Brust. Das Mädchen hatte vielleicht kaum Verstand, aber ordentlich Kraft in dem mageren Körper.
Er schob die unbequemen Gedanken beiseite und machte sich auf den Weg zum Klassenzimmer.
Er war immer gern vorher da.
Disziplin. ... eiserne Disziplin!!!

"Natürlich, Sir..."
Krücken hin oder her, erstmal musste der Fuß gerichtet werden. Und das konnte unter Umständen dauern, wenn man seine Arbeit gewissenhaft erledigte. Da Suzanna jetzt jedoch saß, würde sich das weitaus einfacher gestalten, als zuvor.
Wieder ging sie vor dem Mädchen in die Knie und betastet den Fuß. Es würde schmerzhaft werden und eine Garantie dafür, dass es am Ende richtig saß, konnte sie auch nicht geben. Sie konnte ja nicht ins Innere schauen. Dennoch sorgte sie mit einem kräftigen Ruck dafür, dass alles wieder an seinem Platz saß. Vermutlich zumindest.

Suzanna verfolgte träge den kurzen Wortwechsel der beiden und begegnete dann Moores Blick, als dieser zu ihr sprach. Als er sich schon längst umgedreht hatte und fast an der Tür war, antwortete sie: "Ja, Sir."
Dumpfer Schmerz ließ ihren Kopf zu Chandra herumrucken, die gerade ihren Fuß betastete. Allerdings fühlte sich ihr ganzer Körper an wie aus Blei und der Gedanke ihr Bein wegzuziehen, kam ihr erst später. Nämlich ungefähr in dem Moment, als ungekannter Schmerz in ihrem Fuß explodierte und sie gänzlich umfing. Sie schrie. Vor ihren Augen zuckte erst ein gleißend heller Lichtblitz, dann wurde alles schwarz und die Ohnmacht schloss sie in ihre Arme.

"Stell dich nicht so -", wollte Chandra das Mädchen zurechtweisen, doch im nächsten Moment sackte Suzanna zusammen. Vielleicht war das doch etwas viel gewesen? Ihr war es gleichgültig, solange die Jüngere nicht auch noch vom Stuhl fiel und sich den Kopf anschlug. Aber sie fiel nicht, sondern blieb in den Stuhl gelehnt sitzen, wie eine Puppe, die man einfach in die Ecke geworfen hatte.
Die Krankenschwester erhob sich, nahm Salbe und einen Verband aus dem Schrank und machte sich dann daran, den Fuß zu versorgen. So waren ihr die Kinder am Liebsten: Ruhig und wortlos, nicht jammernd vor Schmerzen...
Fehlte eigentlich nur noch eins: Das Mädchen wieder wach zu kriegen und dann noch weitere Anweisungen zu geben. Machbar, denn natürlich hatte sie auch Riechsalz in ihren Schränken, welches sie nun Suzanna unter die Nase hielt.

Ein scharfer Geruch stieg ihr in die Nase, irgendetwas wirklich Widerliches. Und dieser Gestank war extrem lästig, denn eigentlich fühlte sie sich recht gut. Bis auf besagten störenden Gestank.
Unzufrieden schlug sie die Augen auf, um den Grund der Störung auszumachen. Vor sich erblickte sie Chandra, die ihr ein Glasfläschen unter die Nase hielt, in dem sich offenbar das stinkende Zeug befand. Aber das machte keinen Sinn. Oder doch?

Sie musterte Suzanna, als diese die Augen aufschlug.
"Schön, dass du wieder bei Bewusstsein bist. Der Fuß ist gerichtet und Mr. Moore verlangt deine Anwesenheit im Unterricht. Du solltest abends und morgens zum Verbandswechsel herkommen. Bis dahin den Fuß ruhig stellen, damit er vernünftig verheilt. Ich kann dir Krücken geben, damit du den andren nicht hinterher hinkst."

Suzannas Blick wanderte hinunter zu ihrem Fuß und mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück. An alles. Nur irgendwie fand sie es nicht so schlimm, wie sie es finden sollte. Zumindest sagte ihr das ein Teil ihres Verstandes. Und auch die Vorstellung zwei mal am Tag hierher zu kommen schien...machbar.
Sie zuckte die Schultern. "Wenn Sie meinen. Krücken sind sicher nicht verkehrt."

Nur widerwillig nahm Chandra das Paar Krücken aus dem Schrank. Allzu viele gab es davon schließlich nicht hier. Aber was Medizin anging, war ohnehin alles Mangelware.
Sie reichte Suzanna die beiden Gestelle. Eine Erklärung dazu musste sie ja wohl nicht angeben, oder? Dumm war das Mädchen eigentlich nicht.
"Jetzt ab mit dir. Mr. Moore ist kein geduldiger Mensch."