The Children's Crusade

Auch wenn er Elijah nicht wirklich hatte helfen können, manchmal war es genug zu wissen, dass man nicht ganz allein dastand.
Und was auch immer morgen passieren würde, jetzt konnte er sich erst mal ein bisschen beruhigt zurück ins Bett schleichen.

Die Nachtruhe senkte sich über das Haus - auch die Mädchen waren schaten gegangen. Moore machte seine letzte Runde, als die Turmuhr schließlich zwölf schlug. Seine weichen Stiefel trugen ihn lautlos zum Keller.
Er fingerte bereits nach dem großen Schlüsselbund, als der Ruf eines Käuzchens ihn einen Blick aus den vergitterten Fenstern werfen ließ.

Der gleiche, verdammte Mond. ....

Quietschend schwang die schwere Tür auf und gab den Blick auf einen zusammengekauerten Elijah frei, der sich zitternd an den kalten Stein geschmiegt hatte.
"Lyall. Deine Strafe ist abgegolten. Wenn du nicht den Rest der Nacht hier verbringen willst, steh auf."
Er sprach normal. Kühl, emotionslos, blickte er auf den Jungen hinunter.

Er wusste nicht wie lange er noch hier saß und immer wieder einige der Kirchenlieder und Gedichte in seinem Kopf durchging. Irgendwann hatte er das Döschen und die Flasche aus seiner Tasche gefischt und zwischen dem Gerümpel verschwinden lassen. Dafür brauchte er nicht noch einmal mehr Ärger bekommen. Und so bestand die Chance, dass er wieder etwas für die anderen tun konnte, wenn es auch nicht viel war.
Dann schließlich wurde endlich die Tür geöffnet.
Zitternd erhob Elijah sich und hob seinen Hut vom Boden auf, der wohl hinunter gefallen war, als Finnegan ihn gepackt hatte.
"Danke, Sir.", sagte er unsicher und trat mit hochgezogenen Schultern aus dem Karzer hinaus zu Moore. Endlich würde er in sein Bett können und gleich morgen würde er schauen, dass er die Kleider wieder ganz sauber bekam.

"Marsch ins Bett!", befahl Moore und schloss die Karzer Tür hinter ihnen ab.
"Solltest du morgen früh husten, melde dich vor dem Appell bei der Schwester, verstanden?"
Er stieg hinter Elijah die Treppen hinauf und seine Schritte waren lautlos im Gegensatz zu Finnegans.

Er wartete nicht auf die Antwort, er wusste, dass Lyall ihm nicht widersprechen würde.
Moore schlug den Weg zu seinem Zimmer ein, nachdem der Junge in seinem Schlafsaal verschwunden war.


Die Nacht schritt voran und die kälteren Stunden des frühen Morgens warfen Raureif und Frost an die Fensterscheiben des Mädchenschlafsaals, als die Turmuhr schlug.

Suzanna hatte mehr schlecht als recht geschlafen und als die Glocke zum Aufstehen läutete, hätte sie sich am liebsten die Decke über den Kopf gezogen und alles um sich herum ignoriert. Sie fühlte sich, als hätte sie ein ganzes Gespann Kaltblüter samt Kutsche überrannt und überrollt. Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte ihr Bein still zu halten, um das Pochen an ihrem Knöchel nicht zu verschlimmern. Nur noch eine Minute. Ihre Gedanken schweiften ab zu ihrem ersten Sommer auf det Straße. Dort hatte sie zum ersten mal eine richtige Familie gefunden. Sie sah sie alle vor sich, wie sie gemeinsam in ihrem Versteck saßen und die Beute des Tages teilten. Rin. Doyle. Gloria. Hay. Und Zoe. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und die Wärme des Sommertages vertrieb auch einen Teil der Kälte in ihrem Herzen.

Levi hatte alles andere als gut geschlafen, als ihn die Glocke am nächsten Morgen aus einem unsanfen Traum riss. Trotzdem wäre er lieber unter der warmen Decke geblieben, als sich dem kalten Zimmer und den Ereignissen des Tages zu stellen. Aber er wusste, dass nichts dadurch besser wurde, dass man davor davon rannte. Außerdem begannen nun auch die anderen Jungen im Zimmer, sich aus ihren Betten zu quälen und da Levi den genauen Tagesablauf noch nicht kannte, tat er wohl besser daran, ihnen zu folgen. Aber es war wirklich bitterkalt... wie es wohl Elijah ergangen war? Levi wusste nicht mal, in welchem Schlafraum er war.

Müde schlug Elijah die Augen auf.
Nachdem er in den Schlafsaal zurück gekehrt war, hatte er noch eine ganze Weile lang wach gelegen und dich so eng es ging in die Decke gewickelt. Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben, aber die Glocke war das unmissverständliche Zeichen dafür, dass es Zeit wurde aufzustehen.
Nur ungerne schlug er die Decke zurück und schob sich an die Bettkante. Ihm fröstelte es und ein dumpfer Schmerz pochte in seinem Kopf. Wahrscheinlich weil er den letzten Abend so viel geweint hatte. Aber er hatte solche Angst gehabt, dort in der Dunkelheit.
Elijah kletterte leise aus dem Bett und griff dann nach seinen Sachen. Vor dem Morgenapell musste er sie noch ausgebürstet und sich selbst fertig gemacht haben. Leicht hustend legte er sich seine Kleidung über den Arm und sah dann kurz zu Levi herüber, um ihm leicht zu zu lächeln.

Elijah sah elend aus. Die Zeit im Karzer war ihm alles andere als gut bekommen. Aber Levi erinnerte sich an das, was Elijah über Finnegans Verbot mit ihm zu reden gesagt hatte. Da mussten sie sich auch noch was einfallen lassen. Der Direktor konnte sie ja auch nicht pausenlos bewachen, wenn kein Lehrer da war, konnten sie doch normal miteinander umgehen? Und die anderen Kinder wussten doch auchvon nichts... aber Elijah schien es nicht riskieren zu wollen. Für einen Moment befielen ihn Zweifel; vielleicht war Elijah ja ganz froh, dass Levi ihm jetzt keine Probleme mehr machte...
Er schüttelte entschieden den Kopf. So was durfte er nicht denken! Levi packte seine Sachen zusammen, um den anderen Jungen ins Bad zu folgen. Bash ignorierte er dabei ganz bewusst.

Natürlich hatte sie keinen Schlaf gefunden, als sie in den Schlafsaal gekommen war. Es wäre auch ein Wunder gewesen. So allerdings hatte sie das Gefühl, dass sie kaum eingeschlafen war, als die Glocke läutete, die sie zum Aufstehen rief.
Mit einem Gähnen richtete sie sich auf und strich die Haare aus dem Gesicht, die sich aus dem streng geflochtenen Zopf gelöst hatten. Die Haare offen tragen? Niemals.

Nachdem sie sich einmal umgesehen hatte, stand sie auf und trat an ihren Schrank und nahm ihr Kleid heraus. An der Seite löste sich bald eine Naht. Das sollte sie korrigieren, bevor es passierte...

Ein kleiner Aufruhr holte sie aus ihren Träumen. Offensichtlich hatte Amy bemerkt, dass ihr Kleid fehlte. Suzanna zwang sich dazu sich aufzusetzen und sah zu dem Mädchen hinüber, dem die Panik ins Gesicht geschrieben stand. Sie alle wussten, dass sie massiven Ärger bekommen würde.
Mit einem unbehaglichen Gefühl wandte sie sich ab, schlug die Decke zurück und versuchte die anderen Mädchen auszublenden. Ihre Befürchtungen schienen sich bestätigt zu haben, denn Fuß und Knöchel waren auf ungefähr die doppelte Größe angeschwollen und schillerten in diversen Farben. Das konnte ja nur ein wundervoller Tag werden. Sie quälte sich aus dem Bett und sagte sich bei jedem schmerzenden Schritt, dass sie schon Schlimmeres überstanden hatte.


[Mit Dank an Jojo auch ein Bild wie ihr euch Suzies Fuß vorstellen könnt xD]

Alisa mochte es nicht, früh aufzustehen. Dennoch saß sie meist schon beim vierten Glockenschlag aufrecht im Bett und so war es auch heute. Sie streckte sich, gähnte und rieb sich dann den Schlaf aus den Augen, ehe sie vorsichtig aus dem Bett kletterte. Je eher sie aufstand, desto wahrscheinlicher war es, dass sie pünktlich fertig war.
Wie immer beeilte sie sich, sich ordentlich anzuziehen, als sie Suzanna auf sich zukommen sah. Das Mädchen humpelte kaum merklich und Alisas Blick huschte zu ihrem Fuß - er war dick geschwollen und blaue Flecke zogen sich über die blasse Haut. Hin und her gerissen musterte Alisa das andere Mädchen und fasste sich letztendlich ein Herz.
Nervös trat sie auf Suzanna zu, freundlich lächelnd. "Ist alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?", fragte sie vorsichtig.

Ava warf einen verächtlichen Blick zu Amy, die kurz davor stand,in Tränen auszubrechen. Jemand hatte ihr Wechselkleid gestohlen. So oder so ähnlich. Das Mädchen war durcheinander, fast schon hystersich, deshalb irritierte es die Schwarzhaarige umso mehr, dass Marakova, die quasi gute Seele aus dem Mädchen-Schlafsaal, nicht zu Amy, sondern zu Fairchild sprach. Also sah sie selbst die blonde Rebellin einen Moment lang an, Fragend, doch schweigend. Sie war schließlich kein Freund vieler Worte. Erst recht nicht diesem Mädchen gegenüber.

Suzanna seufzte innerlich, als die kleine Marakov auf sie zutrat. Warum konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen, gerade an einem verkorksten Morgen wie heute? Ihr entging der Blick des anderen Mädchens zu ihrem Fuß nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Ava auf sie beide aufmerksam geworden war.
"Kümmer dich um deinen eigenen Kram", zischte sie Alisa zu, während sie Ava mit einem deutlichen Blick zu verstehen gab, dass sie keine Einmischung wünschte.
Ohne auf eine Antwort zu warten setzte sie ihren Weg zum Gemeinschaftsbad fort.

Levi wusch sich so schnell er konnte, einfach weil es wirklich unangenehm kalt war. Die anderen Jungen hielten es ähnlich und die frische Luft und die morgendliche Wäsche sorgten dafür, dass die meisten schnell um einiges wacher aussahen, wenn auch deswegen nicht besser gelaunt. Wie der Tagesablauf aussah, hatte Levi keiner der Erwachsenen gesagt, aber die Jungen konnten ihm sagen, dass sie zu einem Appell anzutreten hatten. Levi fand das lächerlich; sie waren doch nicht beim Militär! Aber die anderen zuckten nur mit den Schultern. So war das nun einmal, daran gab es nichts zu rütteln.
Die Kleidung war wirklich nicht allzu warm, aber besser als nichts. Levi fror ganz gewaltig, aber damit war er nicht allein und es würde absolut nichts bringen, sich darüber zu beschweren.

Alisa zog die Augenbrauen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Also gut, dann eben nicht. Sie hatte es gut gemeint, wirklich! Einen Moment sah sie Suzanne noch nach, dann wandte sie sich der weinenden Amy zu. Ihr war eigentlich gar nicht danach, das Mädchen zu trösten - der gestrige Tag war schon verdammt turbulent gewesen und die Aufregung steckte ihr noch immer in den Knochen. Dennoch lächelte sie mild und reichte Amy ein Taschentuch, ehe sie beruhigend auf sie einsprach. Irgendwie würden sie das Kleid schon wieder auftreiben.

Erst, als das Mädchen sich ein wenig beruhigt hatte, machte auch Alisa sich auf den Weg ins Bad. Zu spät zum Appell wollte sie keinesfalls erscheinen.

Ava musterte Suzanna auch weiter hin - in ihrem momentanen Zustand würde sie ihr ohnehin nicht viel tun können. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf das Humpeln aufmerksam wurde - und Fragen stellte. Abgesehen davon, dass es wirklich unangenehm werden konnte, wenn sie es nicht richtig versorgen ließ. Unangenehmer, als wenn die Krankenschwester es richtete. Es war ja nicht so, als hätte Ava nicht selbst diese Erfahrung gemacht...
"Geh runter", zischte sie der Blonden zu, als sie an ihr vorbei ging.

Etwas langsamer folgte Elijah den anderen Jungen.
Ihm war es lieber etwas Abstand zu ihnen zu halten, nicht dass die meisten ihm überhaupt Beachtung schenkten. Meistens hatte er es ganz gut heraus einfach übersehen zu werden. Und in diesem Moment war ihm das ganz lieb. Er fühlte sich alles andere als gut. Hoffentlich würde es nach der Morgenwäsche besser werden, denn wenn er eines vermeiden wollte, dann war es das Gedicht in Mr. Moores Unterricht nicht wortgetreu rezitieren zu können.
Ab und zu sah er hinüber zu Bastian und zu Levi. Ob letzterem irgendjemand gesagt hatte, dass sie ein Gedicht auswendig können mussten? Moore war es zu zu trauen, dass auch Levi als Neuer eines würde vortragen müssen. Sie schienen wirklich etwas gegen den Jungen zu haben.
Elijah wusch sich schnell - es war aber auch schrecklich kalt geworden - und bürstete seine Kleidung ordentlich aus.
Er schob sich zwischen den anderen Kindern hindurch, die meisten machten sich für den Morgenapell bereit, hin zu Levi. So unauffällig und leise wie möglich schlüpfte er hinter ihn und zupfte ihn am Ärmel. "Psst.." , machte er leise und sah sich verstohlen um.
Dann hielt er ihm den Zettel hin, auf dem er sich das Gedicht abgeschrieben hatte, das er selbst gelernt hatte. Er würde es schon gut genug behalten haben.
"Wir müssen für Moore ein Gedicht auswendig lernen.", erklärte er schnell und leise, unterbrach sich kurz, als er von einem Husten geschüttelt wurde: "Er wird dich bestimmt dran nehmen. Er mag dich nicht... versuch es beim Frühstück noch zu lernen. Also.. wenn du magst."
Wieder ein verunsicherter Blick umher.

Suzanna stoppte abrupt, als Ava zu ihr sprach. Grimmig drehte sie sich zu ihr. "Du hast auch mal besser gewusst, wann du zu schweigen hast. Ich weiß was ich tue und werde den Zeitpunkt selbst bestimmen zu dem ich mich in die Hände dieser Wahnsinnigen begebe. Und das ist frühestens nachdem ich mich gewaschen habe. Oder möchtest du mich davon abhalten?" Ihre Augen funkelten gefährlich und in ihnen lag eine Herausforderung.
Mehr als die Tatsache, dass Ava sie tatsächlich angesprochen hatte, ärgerte sie, dass das Mädchen recht hatte. Es war unmöglich ihre Verletzung dauerhaft zu verheimlichen. Vermutlich würde sie es nicht über den Sportunterricht hinaus schaffen. Schon jetzt hatte sie Schwierigkeiten sich aufrecht zu halten.
Aber sie hasste einfach alles was mit Krankenhäusern oder -stationen zu tun hatte. Und diese Abneigung siegte über ihre Vernunft. Noch.

"Ich gebe dir lediglich einen Rat aus Erfahrung... aber wer nicht hören will, muss fühlen..."
Ava zuckte mit den Schultern. Irgendwie hatte sie weniger Respekt vor einer verletzten Suzanna. Das machte sie menschlich und auch verletzlicher. Und wer verletzlich war, konnte sterben. Die hohe Königin war von ihrem Ross gefallen. Da halfen auch keine bösen Blicke mehr.

Als die Glocke erklang, schlug auch Bash die Augen auf und gähnte. Frühes Aufstehen war nicht gerade seine Stärke, aber mit den Jahren gewöhnte man sich daran. Er schlug die Decke beiseite, warf einen kühlen Blick durch den Schlafsaal und stand dann auf.
Er ging zu seinem Schrank, nahm ein Handtuch heraus und ging dann hinüber in den Waschraum. Dabei entging ihm jedoch nicht, dass Levi ihn mied und dass Elijah krank wirkte. Auch er wusch sich schnell um die Kälte so wenig Zeit wie möglich zu opfern. Ehe er zurück in den Schlafsaal ging, sah er erneut zu Elijah und Levi und sah gerade, wie das Papier den Besitzer wechselte. Auch wenn er nicht sicher war, was darauf stand, hatte er eine Vermutung und bedachte Elijah mit einem wohlwollenden Blick. Dann kehrte er zu seinem Schrank zurück, hing das Handtuch außen zum Trocknen auf und zog sich an.
Wie üblich fand er sich dann an der Tür ein um die anderen Jungen zum Appell zu führen, wie es von ihm auf Grund seiner Stellung erwartet wurde.

Elijah sah wirklich nicht gut aus, und er hörte sich noch schlimmer an. Ob es hier einen Arzt gab? Elijah hätte ihn auf jeden Fall nötig. Obendrein sah er sich nervös um, aber jetzt waren sie ja noch unter sich und kein Lehrer konnte sie bei irgendwas erwischen.
Levi nahm den Zettel im ersten Moment automatisch an, hielt ihn dann aber wieder Elijah hin, als er die Zusammenhänge begriff.
"Danke, aber er kann doch nicht erwarten, dass ich Hausaufgaben gemacht habe, von denen ich nicht mal was wusste!" entgegnete er entrüstet, aber mit gedämpfter Stimme. "So angedreht kann nicht mal Moore sein!"
Wie die übrigen Jungen auch, reihte er sich ein, vermutlich um nach unten zu gehen. Bashs komisches Anführergehabe fand er irgendwo bescheuert, aber wenn er Spaß daran hatte, sich aufzuspielen...

Elijah schüttelte leicht den Kopf.
"Doch genau so ist er... und Finnegan auch.", flüsterte er mit gedämpfter Stimme. Sie taten doch alles, um den Kindern hier vor Augen zu führen wie schlecht sie waren. Böse und schlecht.
Und Levi hatte sich anscheinend ziemlich unbeliebt gemacht. Zumindest kam es ihm so vor... es war mehr ein Bauchgefühl.
"Behalt ihn... nur für den Fall... wenn nicht kannst du ihn mir nach dem Unterricht wiedergeben."
Ein kurzes Lächeln, dann reihte auch der Junge sich hinten in die Reihe der Kinder ein, die von Bash, dem er ebenfalls ein kurzes Lächeln schenkte, angeführt wurden. Elijah konnte den Morgenapell nicht leiden. Sie mussten dort regungslos in der Kälte stehen, ordentlich und in der richtigen Reihenfolge. Aber meistens hatten sie an irgendjemanden ohnehin etwas auszusetzen. Man hoffte nur, dass man nicht selbst dieser jemand sein würde.

"Dann gebe ich dir jetzt einen Rat aus Erfahrung", sie sprach nun laut und deutlich, so dass der gesamte Schlafsaal nicht umhin kam ihre Worte mitzubekommen. "In deinen 10 Jahren hier warst du immer klug genug dich zurückzuhalten. Wenn du glaubst du könntest jetzt auch nur im Entferntesten meinen Platz einnehmen - dann lass dir gesagt sein - hast du dich mit der Falschen angelegt. Selbst mit Verletzung hab ich noch 10mal mehr Macht als du. Dein entspanntes Leben ist hiermit vorbei, bis du wieder zu Verstand gekommen bist. Du wirst als letzte gehen, dir als letztes zu Essen nehmen und stehst bei allen Vergünstigungen für die Gruppe hinten an." Damit drehte sie sich den anderen Mädchen zu. "Jede, die ihr hilft", sie deutete auf Ava, "macht sich damit mich zum Feind." Sie ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen, um ihre Aussage zu verdeutlichen. Als sich kein Widerstand regte, verließ sie das Zimmer, um sich im Bad fertig zu machen. Nach einer kurzen Wäsche kehrte sie in den mucksmäuschenstillen Schlafsaal zurück und zog sich an. Dann winkte sie Amy zu sich, die mit großen Augen zu ihr trat. Suzanna ruckte mit dem Kopf auf ihr Bett und das Mädchen setzte sich ergeben, während Suzanna ihren Mantel aus dem Schrank zog und abbürstete. Wenn sie die Arme richtig hielt und Finnegan nicht allzu genau hinsah, könnte sie den Morgen überstehen.
Dann sah sie auf und sprach leise und eindringlich zu der anderen. "Ich hab gehört dein Kleid ist weg. Ich wollte heute sowieso einen Ausflug in die Kleiderkammer machen und könnte dir ein Neues mitbringen. Wenn du mir bei einer Sache hilfst." Sie ließ die Worte kurz in der Luft hängen und sah den Hoffnungsschimmer in Amys Augen aufblitzen. Natürlich würde sie annehmen. Das Angebot war zu verlockend. Darauf bedacht, dass keine fremden Ohren lauschten, erklärte sie knapp die Bedingungen, besiegelte den Deal mit einem Handschlag und schickte Amy dann in die sich formende Aufstellung.
Sie selbst ging an die Spitze der Gruppe, stellte noch einmal sicher, dass Ava an ihrem neu zugewiesenen Platz stand und führte die Mädchen nach unten auf den Hof. Die Treppen waren hart und einmal hätte ihr Fuß beinahe nachgegeben, aber die immer noch präsente Wut über Avas Verhalten hielt sie aufrecht.

"Es ging nie um Macht..."
Leicht irritiert sah Ava der Blonden hinterher, ehe sie mit den Schultern zuckte und ihren Weg fortsetzte. Nach außenhin konnte man ihr nicht ansehen, was in ihrem Inneren vorging. Gerne hätte sie Suzanna die Treppe herunter gestoßen. Stattdessen setzte sie ihren üblichen Gesichtsausdruck auf und warf den wenigen, die noch anwesend waren, einen Blick zu, der Suzannas durchaus Konkurrenz machte. Sie forderte nicht - und würde nicht enttäuscht werden. Und wenn alle einen großen Bogen um sie machten, umso besser.

Nachdem sie sich hergerichtet hatte - nie hatte ihr Dutt perfekter gesessen - machte sie sich auf den Weg nach unten. Es mochte sein, dass Suzanna ihr Vorschriften machen wollte. Doch für Ava galt das Wort der Lehrer oder gar Finnegan sehr viel stärker. Dementsprechend trat sie, nachdem sie kurz an dem von Suzanna zugedachten Platz stehen geblieben war, an die Spitze der Reihe. Denn genau dort gehörte sie hin. Zum einen weil sie inzwischen die Älteste hier war. Und zum anderen, weil sie am längsten hier war.
Sie konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, als sie Suzanna kurz ansah.
"Das Wort des Direktors zählt mehr als deines, Fairchild."

Suzanna zog kurz die Augenbrauen hoch. "Hätttest du mir richtig zugehörigt, hättest du verstanden, dass es nie darum ging wo du stehst. Nicht hier. Höchstens in der Rangfolge." Ihre Worte waren nicht mehr als ein abfälliges Flüstern.