The Children's Crusade

Moore hatte noch mit Direktor Finnegan gesprochen und verließ nun dessen Büro, um die Kontrolle der Tür zu übernehmen. Ab dem achten Schlag der Turmuhr hatten alle Kinder sich im Haus zu befinden. Zuwiderhandlung wurde streng bestraft und er würde heute Abend sicher nicht mit dieser Tradition brechen, nur weil ein Neuer mal wieder über die Stränge schlug und Lyall im Karzer saß bis Mitternacht.
Er bog gerade um die Ecke, als sich die kleine Marakova zwischen Ford und ihren Bruder schob.
"Was haben wir denn für ein Problem?", kam es mit schneidender Stimme von Moore, als er der drei Streithähne ansichtig wurde.

Er hielt Avas Blick. "Du weißt, was dir blüht, wenn du meiner Schwester blöd kommst, Ava." Er ignorierte seine Schwester dezent. "Und glaub mir, wenn es um sie geht, mache ich auch bei Mädchen keine Kompromisse."
Als Moore um die Ecke kam und sie ansprach sah er kurz zu ihm auf, dann aber wieder zu Ava. "Wir haben gar kein Problem, Sir." Er funkelte Ava an. "Oder Ava?"

"Ich habe mich lediglich unglücklich ausgedrückt", antwortete Ava sowohl auf Bastians Aussage, als auch auf Moores Frage. "Entschuldige bitte, Alisa. Und entschuldigen Sie bitte, Sir, dass der Eindruck eines Problems entstand."

Moore verschränkte die Hände auf dem Rücen, während er die drei umrundete. Natürlich versuchten sie sich herauszureden. Wie sie es immer taten.
"Ihr wisst, dass ihr beim letzten Glockenschlag alle im Haus zu sein habt. Was steht ihr hier herum? Und du", er deutete auf Ava, "hast, glaube ich, noch etwas zu tun, hm?"

Er musterte sie. Scharf, aufmerksam und durchdringend.

"Ich war gerade auf dem Weg, Sir. Wenn Sie mich entschuldigen, werde ich ihn fortsetzen."
Dann war es wohl das letzte Mal gewesen, dass sie überhaupt ein Wort mit der blonden Russin gewechselt hatte - erst wurde es falsch verstanden und dann auch noch sowas. Dabei hatte sie eigentlich schon ... ach, egal.
Sie versuchte nicht einmal, Moore anzulächeln. Erstens hätte er die Lüge sofort durchschaut und zweitens hätte es keinen sinnvollen Effekt.

Alisa biss nervös auf ihrer Unterlippe herum. Wenn sie hier noch viel länger standen, dann würde sicher Moore-
Wenn man vom Teufel sprach. Der Mann war um die Ecke gebogen und umrundete das kleine Grüppchen. Alisa zog unbewusst die Schultern an und machte sich klein. Es hatte heute wirklich schon genug Ärger gegeben...
"Wir sind schon auf dem Weg, Sir.", antwortete sie leise, ihr Griff um Bashs Hand festigte sich.
Ein letztes Mal sah sie zu Ava und lächelte entschuldigend, dann wandte sie den Blick zu ihrem Bruder. Sie wollte so schnell wie mögluch verschwinden.

Sein Blick blieb noch einen Moment auf Ava liegen, wanderte dann kurz zu Moore. Er verzichtete darauf ihn darauf hinzuweisen, dass sie sich längst im Haus befanden, diese Erinnerung also eher sinnlos war, denn für einen Tag hatte er sich nun wirklich genug Ärger eingehandelt. Er nickte nur. "Ja, Sir." antwortete er nur kurz und sah dann zu Alisa. "Komm wir haben da noch Aufgaben zu erledigen. Eine Stunde haben wir ja noch." Er wandte sich in Richtung Treppe um.

Direktor Finnegan verließ mit schnellen Schritten sein Büro. Es war erst zehn Minuten nach acht, also hätte Lyall noch vier weitere Stunden im Karzer auszuharren.

Doch die Bemerkung von Moore hatte Finnegan nachdenklich gemacht. Wenn der Junge sich eine Erkältung zuzog und ernsthaft krank wurde, gab es Papierkram. Wenn er starb noch mehr. Deshalb schien es wohl sinnvoller, ihn zu holen und ihn den Rest der Strafe anders verbüßen zu lassen.

Finngan ging die Treppen zum Karzer hinunter. Sein Gehstock knallte mit jedem Schritt auf die Stufen. Er wusste, dass das Geräusch allein schon für Angst und Schrecken sorgte.

"Lyall... Lyall..." Seine Stimme klang überraschend sanft, aber mit einem diabolischem Unterton. "Du bist ein sehr unartiger Junge gewesen."

Das Klacken des Gehstocks ließ ihn zusammenfahren.
Wehmütig blickte er auf den Kerzenstumpf, nahm ihn und trug ihn zu etwas Gerümpel hinüber, um die Flamme dort auszupusten. Er biss sich auf die Unterlippe und schob den noch warmen Wachs zwischen die Dinge und Spinnenweben.
Dann tastete er sich in eine der Ecken, um dort in der Hocke auszuharren.
Er wusste nicht, was schlimmer war. Die Dunkelheit oder die Stimme, die nun in die Finsternis sprach.
Elijah versuchte die Tränen zu unterdrücken.
Hoffentlich hatte er den Kerzenschein nicht gesehen. Aber hatte er dann nicht Recht, dass er noch unartiger gewese war?
"Das... das wollte ich nicht.", brachte er mit zittriger, leiser Stimme hervor.

Die kurze Phase des Ausruhens hatte Suzanna auf eine Idee gebracht. An der Häuserecke hielt sie kurz an - was sie sowieso bitter nötig hatte - und streifte vorsichtig ihren Umhang ab. Dann faltete sie ihn so, dass die schmutzigen Stellen nicht mehr zu sehen waren und verschränkte ihre Arme darunter. Von der Länge her müsste er jetzt auch ihre Knie verdecken.
Die schneidende Kälte ließ sie frösteln, aber wenn es klappte, war es das wert.
Aufrechten Schrittes führte sie ihren Weg fort, bis sie am Haus angekommen war. Sie fixierte die Stufen zur Tür hinauf, biss die Zähne zusammen und stoppte nicht. Der Schmerz ließ sie kurz zusammenzucken und verschaffte ihr die bekannten bunten Sterne vor den Augen, aber sie verbot es sich innezuhalten. Stattdessen fuhr eine Hand automatisch zum Treppengeländer, um sich ein bisschen Halt zu verschaffen. Sie hoffte, dass Moore genug mit den Marakovs zu tun hatte, um ihre Schwäche nicht zu bewerken. Oben angekommen ließ sie ihre Hand wieder unter dem Mantel verschwinden. Sie würde es zumindest hinein schaffen! Keine Schwäche zeigen. Vielleicht könnte sie sogar unbemerkt bis in den Schlafsaal kommen.

"Ab dafür", Moore wedelte mit der Hand, als verscheuche er ein lästiges Insekt.
Als er das Klacken des Gehstockes vernahm, glitt ein kurzer Hauch Eis durch seine Augen, ehe er knurrte: "Worauf wartet ihr noch? Wollt ihr noch mehr Ärger?"

Das ließ Ava sich nicht zweimal sagen. Es gab einige Punkte auf der Liste, anhand derer man Ärger vermeiden konnte. Erzieher und Lehrer verärgern war einer davon. Finnegan aus dem Weg zu gehen ein anderer, wenn nicht sogar wichtigerer Punkt.
Sie beeilte sich, in einen der Flure zu treten, die von der Eingangshalle abzweigten. Patrouille gehen war schön und gut. Dabei mit jemandem reden - vermeidenswert.

Auch Bash ließ sich das nicht zweimal sagen, hatte er doch nun wirklich genug Ärger für einen Tag angesammelt. Er zog seine Schwester mit sich und ging mit ihr die Treppen hoch und hinüber in die Bibliothek. Immerhin hatten sie da noch ein Gedicht zu lernen. Gedankenverloren ging er an den Bücherreihen entlang.

Suzanna sah erst Ava und dann die Marakovs gehen. Sie hoffte, dass Moore sie selbst nicht zu genau mustern würde. Als wäre alles in bester Ordnung ging sie gemäßigten Schrittes an ihm vorbei in Richtung Treppe und nickte ihm einmal höflich zu.

Im Schlafraum ignorierte er die anderen Jungen weitestgehend, von einer knappen Begrüßung einmal abgesehen. Sonderlich gesprächig waren die paar Anwesenden nicht, aber Levi bemerkte die vieldeutigen Blicke durchaus, die sie sich zuwarfen.
Er hatte seit seiner Ankunft noch nicht einmal seinen Koffer ausgepackt. Nicht, dass da so viel drin gewesen wäre. Das bisschen eigene Kleidung würde er in näherer Zukunft wohl eh nicht tragen. Ein Buch, ein paar Fußballsammelkarten, ein Zeitungsartikel von einem Spiel, bei dem er gewesen war. Er saß auf der Bettkante, betrachtete seine spärlichen Besitztümer und plötzlich traf ihn eine Welle von Heimweh, die er bisher irgendwie zurück gehalten hatte.
Der Koffer landete hart neben dem Bett als er sich darauf zusammen rollte, den brennenden Rücken dem Raum zugewandt, die Augen fest zugekniffen. Eben schon waren die Tränen fast da gewesen und jetzt war er wieder kurz davor... und was machte es schon?

"Soso, wen haben wir da? Wie siehst du denn aus? Ist bei dir der Hochsommer ausgebrochen
Moores Gesicht verzog sich zu einer Maske.
"Es hat bereits geläutet, ist dir das aufgefallen, Fairchild ?"

Moore neigte den Kopf und versperrte ihr den Weg.

Sie fluchte innerlich. Natürlich konnte Moore es nicht auf sich beruhen lassen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie konnte die Nervosität nicht ganz von sich schieben, als sie stehen blieb.
"Verzeihung, Sir. Ich war so vertieft in das Gedicht, welches ich für ihre morgige Stunde auswendig gelernt habe, dass ich darüber die Zeit vergessen habe." Sie hasste es sich so dermaßen einzuschleimen, aber es war besser als erwischt zu werden. "Und ab und zu mag ich es den kühlen Wind zu spüren, also hab ich meinen Mantel ausgezogen. Das ist hoffentlich kein Problem, Sir?"

"Ach wirklich? ", Moores Stimme wurde samtweich, wie das Fell eines Tigers, der die Krallen eingezogen hatte.
Er lehnte sich gegen die Tür und schloss sie mit einem großen eisernen Schlüssel ab, den er immer bei sich trug.
"Wie ging denn die erste Strophe?"
Der hochgewachsene Mann musterte das Mädchen mit kalten Augen, während sie sich tadellos gerade hielt.

Noch.

"Soso, das wolltest du also nicht." Finnegan sprach immer noch mit zuckersüßer Stimme, als er vor dem Karzer stehenblieb und mit einem leisen Klacken den Schlüssel ins Schloss schob. "Warum hast du es dann getan? Warum hast du es getan, Lyall?"

Seine Haltung verkrampfte sich, als er das Klacken des Schlüssels vernahm.
Finnegans Stimme jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
"Ich... ich sollte helfen die Maße zu nehmen bei Lev- bei unserem neuen Mitbewohner.", brachte er hervor und schluckte leicht. Notdürftig versuchte Elijah etwas Dreck von seiner klammen Kleidung zu klopfen.
"Ich... ich hatte keine Zeit das Buch zurück zu bringen."
Aber war es wirklich an ihm sein Betragen zu rechtfertigen? Wenn er etwas schlechtes getan hatte, gab es dann eine Entschuldigung?

Alisa atmete erleichtert aus, als Moore sie ziehen ließ und ihre Schultern entspannten sich erst, als Bash und sie in der Bibliothek ankamen. Sie lief hinter ihrem Bruder her und versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, was Ava ihr hatte beibringen wollen - doch da war einfach gähnende Leere. Nicht einmal die drückende Angst, die sie im Karzer gespürt hatte, war geblieben.
An einem der Regale blieb sie stehen und griff nach einem dicken Buch. Es war ein Sammelband und sicherlich würde sie darin fündig werden. Willkürlich schlug Alisa eine Seite auf und las die abgedruckten Strophen konzentriert, ehe sie nickte. Mit etwas Glück würde sie die Hausaufgabe also doch noch fertig bekommen.
"Hast du dir schon etwas ausgesucht, Bash?", fragte sie, ohne von der Schrift aufzusehen.

Sie wusste, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Jetzt zählte jedes Wort und jede Bewegung. Ihr Kopf schwirrte und sie spürte nur zu deutlich die Schmerzen im Bein, ihre Knie und Hände brannten.
Verdammt, konzentrier dich!
Sie sah Moore nun direkt an, Sturheit sprach aus ihrem Blick. Sie ließ sich nicht unter kriegen, ganz sicher nicht!
Wenn ihr jetzt nur dieses dumme Gedicht einfallen würde...Gerade konnte sie es noch...
"When,... in disgrace with fortune and men's eyes,
I alone beweep my outcast state,"
Guter Anfang. Der Anfang war leicht. Den hatte sie tausend mal wiederholt.
"And trouble deaf heaven with my...bootless cries,
And look upon myself, and curse my fate,"
Curse my fate...Wie passend...Wenn nur der Schwindel nicht wäre...
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch, betend, dass Moore genug hatte und sie endlich wegschicken würde.

"Ein Buch bringt man nicht mit zum Essen, Lyall." Es klackte erneut, als der Schlüssel herumgedreht wurde. "Aber das ist noch nicht alles, nicht wahr? Du hast noch mehr böse Dinge getan."

Die Klinke wurde langsam heruntergedrückt. "Glaub mir, Junge, es ist immer besser, seine Schandtaten freiwillig zu gestehen, anstatt darauf zu warten, dass ich sie herausfinde. Erleichtere lieber jetzt dein Gewissen, dann wird die Strafe weniger schlimm ausfallen."

Moore nickte langsam.
"Gut. Über die Betonung reden wir jetzt besser nicht.
Du hast auch noch Patrouille, nicht wahr? Dann ab mit dir und bring deinen Mantel zur Garderobe. "
Er stand einen Moment an der Tür, als er den Schlüssel wieder in seiner Westentasche verschwinden ließ.
Dann setzte er sich in Bewegung und durchquerte den Gang mit schnellem Schritt. Das streng zurückgekämmte, lackschwarze Haar, das zu einem tadellosen Zopf im Nacken zusammengebunden war, war das Letzte, was Suzanna von ihm sah.

Er wusste doch, dass ein Buch nichts im Speisesaal verloren hatte.
Aber Mr. Moore hatte ihm keine Zeit mehr gelassen das Buch, aus dem er ein paar Gedicht hatte auswendig lernen wollen, zurück zu bringen. Vielleicht hätte er es gar nicht erst aus der Bibliothek herausbringen sollen...
Elijah ließ seinen Kopf hängen und blinzelte die anbahnenden Tränen weg.
Hatte er wirklich noch mehr böse Dinge getan?
Sein Herz machte einen schmerzhaften Satz gegen seine Brust, als er an die Dose und die Flasche in seiner Hosentasche dachte. Natürlich! Er hatte etwas gestohlen.. wieder einmal.
Und Gott hatte in seinen Geboten doch gesagt: Du sollst nicht stehlen.
Also hatte er gegen eines dieser Gebote verstoßen und war ein böses Kind gewesen. Aber hieß es nicht aucht liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Und er hatte doch nur geklaut, um Levi zu helfen... und wenn er es jetzt zugab, würde er vielleicht keinen von ihnen wieder helfen können. Würde Gott dann nicht vielleicht ein Auge zudrücken können?
Aber Finnegan würde es wohl eher nicht, wenn er es herausfand.
"Ich... ich habe nur Mr. Moore geholfen den Neuen herzurichten, Sir.", piepste er mit verschüchterten Stimmchen.